Abgewandt Zugewandt (1985)

(= Abgewandt Zugewandt — Erster Teil: Hochdeutsche Gedichte)

Titel: Abgewandt Zugewandt / Neue Gedichte / Hochdeutsch und Luzerner Alemannisch / Mit einem Nachwort über das schweizerische Sprachdilemma
Verlag: Ammann Verlag AG, Zürich (1985)
Druck: Benziger AG, Einsiedeln
Inhalt: 52 hochdeutsche Gedichte (+ 36 Mundart-Gedichte + Essay); darunter 5 Zyklen:
Beschwörung I-V, New York I-VI, Rom I-IX, Escorial I-III, Frankfurt am Main I-II
Textträger: Broschiertes Bändchen mit Umschlag-Porträt, Spaltentexten, 128 Ss;
S. 5-61 Hochdeutsche Gedichte; S. 63-102 Alemannische Gedichte

Vorstufen: Notizbuch 1980-1988, Manuskripte 1979-1983, Typoskripte 1983
Kommentar: BeschreibungRezensionen
Vgl. auch Raebers Typoskript Zur Entstehung

      )

Rom / V

Der Sturmwind vom Palatin
herüber und dann
der Regen man braucht keinen Kuchen
mehr bei Giolitti zu kaufen nur einfach
05 hinunterspringen vom Dach und
über den Böen leise
und weich hinweg
über die Kuppeln weich
und leise hinweg
10 über die Plätze und wenn
die Motociclette dort unten
vor der Maddalena noch
so laut hupen und wenn
die Stimme dort unten
15 am Pantheon noch so
schrill kreischt
o Taumel
Glück der Entrückung.

Und dann das Becken
ausgelaufen das warme
das kalte Wasser nicht einmal ein toter
Fisch der Wärter im dunklen
05 Anzug und niemals im warmen
niemals im kalten Wasser gebadet doch gegen
den Regen eine zusammen-
gefaltete Zeitung.

      )

Rom / VII

Düfte von nie
gerochenen Blumen die Lüfte
dicht zu Gewölk und
dichter geronnen die Knochen
05 aus den Binden heraus
und davon
geschwemmt von der Schlammflut.

Unter den Mauern
sagst du unter den Wurzeln
sollten wir suchen den Einstieg
in das Gewölbe:
05 Die Nischen dort unten die Wände
tropfend das sei
eher nach unserem Herzen.

Das Heulen aber der Hupen
der Widerhall von den Mauern
10 vom Gewölbe dort unten und aus den
Nischen und von den Wänden
tropfend unter den Wurzeln
was sagst du?

      )

Rom / IX / Via Appia

Das Grab
begraben unter
Gestrüpp der Wagen
ächzt die Brüste
05 versickern
glitschige Stufen
gestillt die
Schattengewächse.

      )

Escorial / I

In die Säle hinein
in die Zimmer durch alle
Gänge Wider-
hall deiner Schritte innen
05 zuinnerst die Zelle
der Rost und die Kohlen 
darunter Geruch von verbranntem
Fleisch
und dann zurück durch die Säle
10 die Zimmer durch alle
Gänge Wider-
hall deiner Schritte hinaus
ins Freie die Weite
winzige Falter und weiß
15 über den Büschen. 

      )

Escorial / II

Oder unten durch die
Keller und durch die Grüfte die feuchten
Kutten in Fetzen
zerfallend in Fäden Partikel
05 farblos und muffig
riechend und in den Kapuzen
quiekende Mäuse und vorn
am Ende die Kästen mit schweren
Deckeln versunken
10 im Schutt doch im ängstlichen
Licht die Windung der Treppe und oben
von neuem die Weite
winzige Falter und weiß
über den Büschen.

      )

Escorial / III

Oder von Turm zu Turm von einem
Giebel zum andern der Schall
der Glocken als käme
der Richter am Himmel und nicht
05 eine einzige Wolke die weißen
Kaninchen und weit
entfernt sich zu fürchten am Fuß
der bebenden Kuppel
mampfend und in den Augen
10  Neugier blinkend sie sind
bestimmt für das Nachtmahl.

Von Wien
stieg er auf und über
dem Schwarzwald erschien er
als einheimischer Vogel und doch
05 war es vermutlich im persischen Hochland wo er
ausschlüpfte aus dem
Ei aber das ist
zu lange her über
Frankfurt steht er
10 seit einem halben Jahrtausend
von Zeit zu Zeit immer wieder und manche
behaupten sogar er habe
eine zeitlang zwei Köpfe gehabt ein Fabel-
tier sei er damals gewesen doch seither
15 ist er ein einfacher
Vogel nun schon
lange allein und ohne
Genossen und findet
zwischen den Wolken-
20 kratzern sein altes
Nest St. Bartholomäus nicht mehr schon auf
Goethe hatte er dort
nur noch exotisch
gewirkt wie aus einem fernen
25 Zwinger hergeflogen da fällt
eine Feder und dort
eine Feder herunter Passanten
lesen sie auf und erinnern
sich sie hätten ihn neulich
30 im Nordosten auf einem verschneiten
Sandplatz im Schnee
sitzen sehen abgemagert und heiß-
hungrig schnäbelnd wie lang
ists her daß er über den Toren der freien
35 Städte aus goldenen Tellern
fraß und von Castel del Monte die Flotten
der Sarazenen die Segel
mit dem geflügelten Löwen erspähte daß er in der
Höhle
40 am Palatin hauste bequem
und gefürchtet noch heute
schmerzt ihn der Rauch in den Augen
womit man ihn austrieb
doch auch über Frankfurt wird er sich nicht mehr
45 halten können schon bald
hat er alle Federn verloren man wischt sie
jeweils morgens um fünf Uhr
an der Konstabler-
wache zusammen er fällt
50 wenn er Glück hat am Römer
herunter ein kahles
ausgemergeltes Aas liest ihn ein Türke
vom Pflaster auf und wirft ihn zum übrigen
Müll in den Container.

Nicht der von 1789 in Paris
der von 1794 in Frankfurt am Main der
vierzehnte Juli Goethe
war weit fort in Weimar die Frau
05 Rat lebte immer noch beide
hatten keinen Sinn für das was da
vorging als der grämliche
Franz von Toskana als Letzter
die Römische Krone empfing
10 Sakrament und Beschwörung
magischen Ordnung voraus-
weisend auf das universale
Reich des ewigen Friedens das es
bis heute nicht gibt und auch der
15 Völkerbund und die Vereinten
Nationen sind erst
Voranzeigen weniger sinnen-
fällig als der lange
Flug des Adlers vom Nil bis zum Main aber dafür
20 schon allgemeiner die Krone
die heilige Lanze waren für Goethe
und für die Frau Rat nur
Antiquitäten das All-
gemeine gab es für sie nur als eine
25 moralische Übereinkunft der Menschen das Reich
war ein Überbleibsel
der mittleren Zeit und die Krönung des Kaisers
ein gemütliches Schauspiel aus der // 061
Heimatgeschichte was ist es
30 da zu verwundern daß die
Söhne und Enkel den Frankfurter vierzehnten Juli über
dem Pariser vergassen und aus dem
Reich einen weiteren
Panzerwagen machten unter den vielen
35 Panzerwägen alle plombiert und einander
bedrängend zerquetschend auf der
schmalen Straße zur Welt-
macht und zum Reichtum die Doppel-
krone des Oberen und des
40 Unteren Reichs kommt ins
Museum der Horus-
falke in den Zoologischen Garten der wahrhaft
sittliche wahrhaft
vernünftige Mensch versteht die
45 Zeichen nicht und hat sie
der glückliche
auch nicht mehr nötig.

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