FLUSSUFER (Kommentar)

Zur Entstehung und zur Gedichtauswahl vgl. den Briefwechsel zwischen Raeber und dem Claassen Verlag (B-4-c-FLUSS; v.a. 20.12.1962); zum Titel (Flussufer / Stromrand) vgl. ebd.

Auslieferung des Bandes am 18.3.1963

Titelseite: Kuno Raeber / FLUSSUFER / Gedichte / Claassen Verlag
S. 5-6 Vorwort
S. 2-59 Gedichttexte
S. 60-62 Verzeichnis der Gedichte

Flussufer inhalt1

Flussufer inhalt2

 (Bei Zikade Seitenangabe 49 statt 58 (vgl. Hilde Claassen an Raeber, 18.3.1963)

 

Widmungsexemplar für Thomas Raeber im Nachlass (Schachtel 134):

Statt Böses mit Bösem zu vergelten und glühende Kohlen auf Dein Haupt zu sammeln, ziehe ich es vor, auch  die linke Wange hinzuhalten und, wie weiland der heilige (Antony) Martin, die Hälfte meines Besitzes hinzugeben, Dir, meinem Bruder Thomas, / zu München, am 29.7.1963: *

* Der Autor

Rezensionen

Die Weltwoche, 21.6.1963

Ozeanische Augenblicke
 Kuno Raeber: «Flussufer», Claassen Verlag, Hamburg

 Wer heute Gedichte schreibt, wird dem Gefühl nicht entrinnen, ein «Enkel» zu sein. Der machtvolle Aufbruch zur Neuen Lyrik liegt zwei Gernerationen zurück, das Pathos der Moderne ist verpufft, Traditionen haben sich herausgebildet. Bestürzende Metaphern, kühne Klangeffekte schockieren nicht mehr, das Wildeste und Bizarrste ist zur Gewohnheit geworden. Wie also kann es weitergehen?

Wenn man absieht von den Bemühungen einiger Werbetexter, mit Berufung auf die Informationstheorie eine «funktionelle Lyrik» zu entwickeln, ist im letzten Jahrzehnt – zumindest im deutschen Sprachgebiet – nur ein Weg mit Erfolg begangen worden: der Weg zurück zur Unmittelbarkeit, zur Einfachheit. In einer Zeit der hemmungslosen Superlative, mitten im allgemeinen Verschleiss der Sprache, in der Inflation der Begriffe, haben Dichter wie Günther Eich, Paul Celan, Ingeborg Bachmann den beinah schon verlorenen Glauben an die Kraft des einfachen Wortes zurückgewonnen.

Auch Kuno Raeber bekennt sich immer entschiedener zur Direktheit, zur Unmittelbarkeit. Das hat nichts mit Pseudo-Naivität zu tun: seine neuen Gedichte sind knapper, lapidarer als die früheren, aber nicht weniger melodiös, nicht weniger bewusst und kunstvoll gefügt. (Auch eine japanische Tuschzeichnung, die nur aus drei leichten Pinselzügen besteht, ist alles andere als «naiv».)

Raeber versucht in seinen Gedichten der Dinge, Empfindungen, Erfahrungen habhaft zu serden, nicht indem er sie mit andern vergleicht, sie duch andere ersetzt, sondern indem er sie bei ihrem eigenen Namen nennt, sie bannt durch das Wort, das sie deckt. Er besingt die Dinge nicht, bekränzt sie nicht mit Worten; seine Lyrik will wieder sein, was Dichten ganz ursprünglich war: Beschwörung. Indem man es in eine Wortgestalt fasst, soll flüchtiges Wissen, einmalige Erfahrung haltbar gemacht und gegen die Zeit verteidigt werden.

 Kuno Raeber versagt sich Metaphern, den leichten und oft leichtfertigen Bilderschmuck, der immer noch gern für «lyrisch» gehalten wird. Das Vokabular seiner Gedichte ist schlicht, beinah alltäglich, ihre Sprache klangvoll, aber karg und präzis. Momentaufnahmen möchte man sie nennen; aber ihr Wesen ist nicht Beschreibung, obwohl meist von ganz elementaren Dingen die Rede ist: von Bäumen, Tieren, vom Meer, von toten Gegenständen, Trümmern. Die Sprache entkleidet sie ihrer Zufälligeit; Kuno Raeber sucht – wie er selbst sagt – ihre «platonische Idee» in Worte zu fassen. Und das heisst auch: ihre Möglichkeit, etwas andres zu sein, sich zu verwandeln, zu erwachen aus ihrem «Dornröschenschlaf».

Neapel: Palazzo Reale

Sommers verstecken die Löwen
sich hinter den Oleander-
kübeln vor dem Schluchzen vom Strand.

Im Winter
blüht der Oleander. Das Schluchzen
schweigt, und die Löwen
kommen hinter den Kübeln
mit blinzelnden Augen hervor.
Sie fliehen
über das Treibeis nach Capri.

Das ist, wenn man so will, keine reale Erfahrung, sondern ein Traum, die Sehnsucht Pygmalions, Standbilder zum Eigenleben zu erwecken. Im Gedicht wird das möglich; die Sprache kann die Dinge nicht nur bannen, sondern auch in Bewegung setzen, verwandeln.

Jeder Mensch, glaube ich, kennt jene seltsamen Augenblicke der Halbwachheit oder Ueberwachheit, wo die Dinge plötzlich in einem fremden und reineren Licht erscheinen, und wo man von einer Ahnung ihres eigentlichen Wesens, ihres verborgenen Zusammenhangs gestreift wird. (Sogar ein so strenger Rationalist wie Freud hat die Existenz slcher Erfahrungen anerkannt und sie – vielleicht vor dem grossen, gefährlichen Wort «mystisch» zurückschreckend – «ozeanisch» genannt.)

Diese Augenblicke beschwört Kuno Raeber, überzeugt, dass ihre Erfahrung, wenn sie sich verfestigt in genauen und unverrückbaren Worten, gegen die Vergänglichkeit gefeit ist; überzeugt, dass solche Gedichte (um nicht zu sagen: Formeln) in dem, der in sie hineinzuhören bereit ist, eine unmittelbarere, tiefere Resonanz finden als auf dem Umweg über den Intellekt. (Mit «Formeln» ist hier nichts Mathematisches gemeint, sondern ein Anklang an Zaubersprüche.) Aber nicht alle Gedichte fixieren (um bei diesem Wort zu bleiben) ozeanische Augenblicke. In einigen der geglücktesten lässt Kuno Raeber seiner Fabulierlust freien Lauf; sie haben die heitere Eleganz von verträumten Miniaturen:

Der Thron

Heute findet der Diener
den Knopf nicht, der die Löwen
brüllen und sie den Thron
hochstemmen läßt. Der
05 Kaiser zerbeißt sich die Lippen.
Der Gesandte
kürzt seine Rede und huldigt
lieber dem Pfau, der den Schweif
über den Kies zieht.

Urs Jenny